Wenn mir jemand sagt, er würde seine Bibel jetzt aufmerksam und genau lesen, dann freut mich das natürlich. Aber es hinterlässt in mir auch die Frage, was denn damit gemeint bzw. beabsichtigt ist.
Ein Beispiel: Ein Wort der Bibel ist schon unzähligen Menschen zur Ermutigung geworden: „Der Herr, dein Gott, ist mit dir auf allen deinen Wegen“ (Josua 1,9). Was aber bedeutet es, dieses Wort ‚aufmerksam’ und ‚genau’ zu lesen?
Der Zusammenhang beginnt in Josua 1,1. Mose ist gestorben und Josua ist von Gott zu seinem Nachfolger berufen worden. Das also ist die Situation, in die hinein dieses Wort gesprochen worden ist. Gott ist es, der dieses Wort jenem Menschen zusagt, den er berufen hat. Er hat es gewiss nicht zu jedem Menschen einfach so gesprochen. Vor allem: Gottes Zusage ist keineswegs bedingungslos.
Aber das ist noch nicht alles. Josua wird in seiner Berufung als Nachfolger des Mose auf eine besondere Form des Gehorsams verpflichtet. „Sei recht fest und unentwegt, genau zu tun nach allem, was dir mein Knecht Mose geboten hat.“ (Josua 1,7) – ja mehr noch: „Von diesem Weisungsbuch (dem ‚Gesetz’ des Mose) sollst du allzeit reden und darüber nachsinnen Tag und Nacht, dass du genau tust nach allem, was darin geschrieben steht. Denn alsdann wird es dir auf deinen Wegen gelingen …“ (Josua 1,8).
Ein Bibelwort „ganz aufmerksam und genau“ zu lesen bedeutet, den Zusammenhang ernst zu nehmen, in dem dieses Wort steht. Dieser Zusammenhang zeigt erst, unter welchen Voraussetzungen Gott mit Josua ist bzw. sein wird „auf allen deinen Wegen.“
Josua 1,9 gehört zu jenen Worten, die man gerne auf kleine Kärtchen schreibt oder druckt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur: Was für dieses Wort gilt, das gilt für jedes Bibelwort: Es ist nicht zu hören ohne seinen Zusammenhang, in den hinein es gesagt worden ist. Es gibt kein biblisches Wort ohne seinen Zusammenhang, ohne seinen konkreten Autor, seinen unverwechselbaren Adressaten, ohne seine konkrete Situation und seine unauswechselbare Geschichte. Würde das nicht gelten, dann könnte jeder dieses Wort als eine Zusage Gottes auch für alle eigenmächtigen Wege, die er geht, missbrauchen. Gottes Wort würde in unserem Mund nwort. könnte jeder dieses Wort als eine Zusage Gottes auch für alle eigenmächtigen Wege, die er geht, misürde in unserem Mund sogleich zu einem Lügenwort.
Deutlich wird das dahinter stehende Problem in der Bibel selbst. Zur Zeit des Propheten Jeremia werden Judäa und Jerusalem von den Babyloniern belagert und am Ende auch eingenommen. Jeremia erkennt darin das Gericht Gottes über die Schuldgeschichte seines Volkes. Es gibt zur Zeit des Jeremia keinen Weg an diesem Gericht vorbei. Am Ende wird sich zeigen, dass Jeremia recht behält. Nur: Mitten in den Auseinandersetzungen ist und bleibt seine Botschaft umkämpft. Es gibt andere Propheten, die genau das Gegenteil sagen. Gott werde nicht zulassen, dass Jerusalem (Zion, die heilige Stadt Gottes) eingenommen wird. Denn, so sagen sie, Gott hat in seinem Bund mit Israel Jerusalem seine Treue versprochen. Der Bund, das Wort seiner Treue, die geschichtliche Erfahrung (Jesaja) … und die ‚Mehrheit’ der geisterfüllten Menschen (mehrere hundert Propheten) … Sie alle stehen gegen die Botschaft des Jeremia.
Wer hat nun Recht? Dafür gibt es ein einfaches und unfehlbares Kriterium: Wessen Wort eintrifft, durch den hat Gott gesprochen. Nur: Ob das Wort des Propheten eintrifft, gerade das sieht man erst später. Glauben und gehorchen aber muss man jetzt. Man kann es nicht verschieben.
Wie sieht das für Jeremia aus? Was die anderen sagen, das ist alles richtig: bundestheologisch, heilsgeschichtlich, gedeckt durch das Wort des Propheten (Jesaja), gedeckt durch die geschichtliche Erfahrung (als Sanherib völlig überraschend die Belagerung von Jerusalem abbrach). Mehr oder weniger alles spricht für jene Propheten, die von einer Bewahrung Jerusalems sprechen. Nur – so sagt Jeremia: Diesmal wird Gott dieses Wort nicht einlösen. Man mag Gottes Worte über Jerusalem (100 Jahre früher durch Jesaja) zitieren wie man will: Gottes Gericht wird diesmal über Jerusalem kommen … Was also heisst es, die Worte der Bibel aufmerksam und genau zu lesen? Die Worte des Propheten Jesaja galten. Sie waren Worte Gottes und wurden von Gott auch eingelöst. Nur: Sie galten für die Zeit des Jesaja. Sie galten nicht mehr für die ganz andere Situation zur Zeit des Propheten Jeremia. Wer also zur Zeit des Jeremia die Worte des Propheten Jesaja zitierte, als seien es zeitlose Worte, die auch jetzt gelten, der wurde gerade dadurch zum falschen Propheten.
Zum aufmerksamen und genauen Lesen der Bibel gehören also, kurz zusammengefasst, folgende Fragen hinzu: WANN wurde dieses Wort gesagt? VON WEM und ZU WEM wurde es gesagt? Und: IN WELCHEM ZUSAMMENHANG wurde es gesagt? Erst wenn ich das weiss kann ich vorsichtig danach fragen, ob und in welchem Sinn ich dieses Wort auch als Wort für mich selbst, für meine Zeit und für meine Situation hören darf.
Zwei Fragen tauchen unter Christen bzw. in christlichen Gemeinden immer wieder auf: die Frage nach der Einhaltung des Sabbat-Gebotes und die Frage nach der Gabe des sogenannten ‚Zehnten’, also von zehn Prozent des Einkommens.
Da sind also einmal jene Menschen, die als Christen den Sabbat als den von Gott gebotenen Feiertag entdecken. Sie tun es, so meinen sie, weil sie ihre Bibel genau und sorgfältig lesen. Es sind die bekannten Fragen bzw. Zweifel, die dann geäussert werden: Warum eigentlich feiern wir als Christen nicht den Sabbat? Warum hat die christliche Kirche den Sabbat durch den Sonntag ersetzt? Es ist doch die Beachtung des Sabbat, durch das die Menschen zeigen, dass sie zu Gottes Volk gehören. In den zehn Geboten ist uns gesagt, dass wir den Sabbat heilig halten sollen und nicht irgendeinen von Menschen oder von der Kirche zu bestimmenden ‚Feiertag’. Gottes versprochener Segen liegt auf dem Sabbat und nicht auf dem Sonntag. Usw.
Sehr ähnlich, vielleicht sogar etwas zugespitzter, geht es zu in der Frage nach der Abgabe von zehn Prozent des Einkommens, des Zehnten. Die Aussagen der Propheten bekommen plötzlich Gewicht. Ob ein Leben gesegnet ist oder ungesegnet bleibt hängt daran, ob man bei der Abgabe des Zehnten treu und genau ist. Ja, es handelt sich nicht nur um den Segen über dem einzelnen Menschen oder der einzelnen Familie, sondern um den Segen Gottes auf der ganzen Gemeinde. Fragt man nach der Begründung, dann wird auf die Aussagen von Propheten verwiesen, die in dieser Hinsicht tatsächlich sehr deutlich sind. Ja, so wird einem einmal mehr gesagt, man müsse seine Bibel aufmerksam und auch genau lesen. Lies doch einmal nach bei den Propheten … Dort steht es doch! Gott hat seinen Segen für seine Glaubenden und auch für die Gemeinden daran gebunden, dass man …
Es lohnt sich durchaus, die entsprechenden Texte der Bibel nachzuschlagen. In 2. Mose 20,8-11 und 5. Mose 5,12-15 geht es um die Einhaltung des Sabbat als Gebot. Manch neuere Übersetzungen verwenden das Wort „Feiertag“ bzw. „Ruhetag“. Genau aber ist jeweils vom Sabbat die Rede (vgl. auch 1. Mose 2,1-3). Übrigens: Auch Jesus hat das Sabbatgebot nie aufgehoben. Jesaja spricht von den Menschen der kommenden Heilszeit: „… wohl dem Menschen, der daran festhält: der sich hütet, dass er den Sabbat nicht entweihe“ (Jesaja 56,2). Man vergleiche den ganzen Abschnitt 56,1-8. Nach Vers 4 ist die Einhaltung des Sabbat geradezu das Kennzeichen für die Zugehörigkeit zum Bund zwischen Gott und seinem Volk (neben der Beschneidung, die aus verständlichen Gründen in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird).
Auch bei der Gabe des Zehnten handelt es ich um ein Gebot, das den Gliedern des Volkes Gottes auferlegt ist (4. Mose 18,21ff). Israel war in seiner Geschichte sowohl in der Einhaltung des Sabbat wie in der Abgabe des Zehnten untreu (Nehemia 13,10-14.15-22). Welche Konsequenzen vor allem die Untreue in der Abgabe des Zehnten hat bzw. umgekehrt welcher Segen auf der Treue in der Gabe des Zehnten liegt macht der Prophet Maleachi (3,8; vgl. 3,6-10) deutlich.
Und nun? Aufmerksam und genau lesen! Sicher haben Sie bemerkt, dass wir das soeben vorgetragene Verständnis von Sabbat bzw. von der Gabe des Zehnten nicht teilen. Obwohl alles so biblisch und so sorgfältig klingt, wird hier gerade nicht aufmerksam und genau gelesen. Jedoch: Was daran ist verdreht und verkehrt?
Die Lösung bringen wir in der Beilage zum nächsten Rundbrief. Bis dahin haben Sie also Zeit zum Raten. Als Hilfe noch einmal die Grundfragen:
Gerne weisen wir nochmals auf die oben zusammengefassten Grundfragen hin:
„WANN wurde dieses Wort gesagt? VON WEM und ZU WEM wurde es gesagt? Und: IN WELCHEM ZUSAMMENHANG wurde es gesagt? Erst wenn ich das weiss …“
Wenn mir jemand sagt, er würde seine Bibel jetzt aufmerksam und genau lesen, dann freut mich das natürlich. Aber es hinterlässt in mir auch die Frage, was denn damit gemeint …weiter lesen